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Kulturrückblick

Kulturrückblick vom 09.01.2016

Iphigenie in Weimar - Ein Verdienst des Generalintendanten Hasko weber am DNT ist es, ab und an auch Inszenierungen anderer deutscher Theaterhäuser als Gastspiel nach Weimar zu verpflichten. Da hatten wir schon Hannover, Stuttgart, Mannheim, und nun – zu Beginn dieses Jahres – also auch Düsseldorf. Das Ensemble vom Rhein war mit Goethes „Iphigene auf Tauris“ angereist. Zwei Aufführungen in Weimar, und die waren gleich in mehrfacher Hinsicht besonders spannend: Zunächst, weil die Iphigenie ein Drama ist, das in vielfältiger Weise untrennbar mit Weimar verbunden ist. Dann, weil die Hauptrolle von einer Schauspielerin dargestellt wird, die auch hier in Weimar eine Beachtung finden sollte. Und drittens, dass auch noch eine Besonderheit in der hiesigen Aufführung selbst bemerkenswert wurde – das will ich abschließend auch noch kommentieren...

Das antike Stück ist karg, Goethes Sprache aber reich. Man muss sich schon sehr konzentrieren, will man einen Genuss aus diesem Drama ziehen. Aber solch eine Konzentration lohnt sich durchaus, weil es nicht nur sprachlich schön, sondern vor allem ein Hohelied auf den Humanismus schlechthin ist. Goethe selbst nannte sein Stück „verteufelt human“. Und es bleibt sein Geheimnis, ob er des Teuflischen in der Welt wegen selbst nicht recht an die Möglichkeit einer Realität seines propagierten Humanismus glaubte...

Verteufelt vielleicht aber auch, weil er viele Jahre lang mit dem Stoff kämpfte, und dabei versuchte, ihn in eine geeignete Form zu fassen: Im Frühjahr 1779 schrieb er das Drama binnen weniger Wochen nieder, und zwar in einer Prosafassung. Das Weimarer Hof- oder Liebhabertheater führte es auf Schloss Ettersburg erstmals auf, mit der damaligen „Starschauspielerin“ Corona Schröter in der Hauptrolle.
Aber schon ein Jahr später setzte Goethe dasa Stück in Versform, nahm diese dann wieder zurück, und nachdem er aus Italien zurückgekehrt war, formte er es erneut – noch unter dem Eindruck antiker Kunst – in schwierige Versformen.

Die Aufführung der Regisseurin Mona Kraushaar blieb völlig texttreu. Sie hat aber das Pathos, das im Stück steckt, bewusst unterdrückt. Damit wurde einerseits zwar die antik beeinflusste klassische Formensprache entrhythmisiert, womit das Drama wieder etwas prosaischer daherkam, dafür aber für unsere heutigen Ohren etwas angenehmer, auch glaubwürdiger, und vor allem zeitnaher erschien.

Ja, was sagt uns solch ein Stück noch – ganz ohne modernistische Einsprengsel – in unserer heutigen Zeit? Es geht um eine Abwägung von Pflicht und Neigung. Wie verhält man sich, wenn man pflichtbewusst und redlich handeln will, die Umwelt aber, oder schicksalshafte Entwicklungen, solch ein Harmoniebestreben stören?
Bei „Iphigenie auf Tauris“ ist es der Konflikt zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und dem Auftrag ihres Herrn, den Bruder als Eindringling in seinem Land zu töten. Natürlich spielen weitere Aspekte in die Handlung: Der Fluch, der auf ihrer Familie lastet, und den ihr Bruder Orest brechen will, indem er in das fremde Land eindrang, um aus dem Tempel eine Gabe zu stehlen. Und auch Iphigenies Dienstbarkeit für die Göttin Diana, von der sie einst vor dem Opfertode bewahrt wurde, und der sie nun selbst als Priesterin im Tempel dient. In dieser Funktion einer Tempeldienerin konnte sie schon – heute würden wir sagen humanistische - Reformen für das Volk der Skythen einführen. Auch die Sehnsucht nach einer Heimat spielt eine Rolle. Und dann natürlich das Thema: Aufrichtigkeit.

Das ist sehr vielschichtig. Für Iphigenie, die Heldin, werden Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit ein gewagtes Unterfangen inmitten der beiden widerstreitenden Konfliktparteien. Aber Iphigenie gewinnt Vertrauen, einerseits ihrer eigenen Integrität wegen, vor allem aber, weil der vermeintliche "Barabar", der Skuythenkönig König Thoas einlenkt. Und eigentlich ist ja Thoas, der Barbar, der wirkliche Held, der einlenkt – moralisch dabei gewinnt, aber im politischen Sinne damit auch zum Verlierer wird...

Man mekrt; hier steckt ganz große Dramatik drin. Und gerade diese Schlussszenen im Stück ließen sich dann auch ganz modern interpretieren.
Dass das Theater Düsseldorf darauf verzichtet hat, nahm ich dankbar auf, weil es trotz vieler aktueller Momente eben auch Goethes zeitlose Universalität zeigte.
Iphigenie ist eigentlich gar kein Individuum; sie ist eine Idee. In ihr verkörpern sich die Ideen der Aufklärung und die Ideale der Weimarer Klassik.

Außerdem: Iphigenie ist emanzipiert; das hat es im Theater vor Goethe auf diese konsequente Art vielleicht noch nie gegeben. Bemerkenswert: Iphigenie löst den Konflikt, in den sie geraten ist, eigenwillig und selbst, und sie überlässt das nicht einem Schicksal oder einem Gott. Damit steht sie für einen starken menschlichen Geist.

Womöglich sprach Goethe sich damals mit diesem antiken Stoff selbst Mut für sein eigenes Handeln zu: Das richtige Verhalten erfordere kein besonderes Räsonieren; denn allein die innere Verpflichtung zur Menschlichkeit und Wahrheit weisen den Weg... Das Seelendrama, welches er hier vor uns ausbreitet, mag dann womöglich auch sein eigenes Drama, hier in Weimar 1779, gewesen sein.
Aber es wäre wohl nicht ein Drama von Goethe, wenn es nicht auch für uns heute noch als ein Lehrstück gelten könnte...

Die Rolle, die zur Uraufführung Corona Schröter spielte, füllte diesmal Tanja Schleiff aus. Sie ist ebenfalls eine großartige, bemerkenswerte Schauspielerin. Mit Thüringer Wurzeln: Geboren in Erfurt, wo ihre Eltern Klaus Schleiff und Renate Hundertmark zu DDR-Zeiten große Mimen des Theaters in unserer Nachbarstadt Erfurt waren.
Die Schleiff hat, auf schwankender, karger Bühne, im DNT sehr überzeugend gespielt. Obschon sie nicht so schön sein durfte, wie sich Goethe die Iphigenie vielleicht einmal vorgestellt hatte, folgte man ihren dramatischen Worten gern. Und auch die anderen Darsteller waren überzeugend: Thoas, der zuletzt so großherzige Barbar, Pylades, der Freund und Begleiter des Orest, Arkas, der Berater des Fürsten und … - Orest aber fehlte.
Nur wenige Stunden vor der Weimarer Aufführung fiel er aus. Ex-DNT-Intendant Günther Beelitz, der jetzt dem Düsseldorfer Theater vorsteht, war der Verzweiflung nahe. Aber Thiemo Schwarz, der im Stück den Arkas spielte, übernahm schließlich – mit dem Textheft in der Hand – auch noch die Rolle des Orest. Und das war für den Zuschauer ein spannendes theatrales Erlebnis obendrein; ein Einblick in die Kunst des Schauspiels, gelesene Texte gekonnt in szenische Darstellung zu setzen. Man möchte solch eine Situation freilich nicht jedem Stück wünschen; hier aber war es, über den Goethe-Stoff hinaus, durchaus erhellend.



Peter Hacks: „Iphigenie oder über die Wiederverwendung von Mythen“
„Tantalos zeugte den Pelops. Pelops zeugte den Atreus und den Thyestes. Atreus zeugte Agamemnon, Agamemnon den Orest. In den unmittelbaren Begebenheiten dieser fünf Herren ereigneten sich die Schlachtung und Verspeisung von 6 Knaben, der Diebstahl 1 goldenen Hundes und 1 goldenen Lammes, 2 der klassischen und beispielgebenden Fälle von Homosexualität, 2 Schändungen von Töchtern durch ihre Väter, 1 Vatermord, 1 Muttermord, 1 Gattenmord, 1 Tochtermord, nicht zu rechnen Selbstmorde, Ehebrüche und minder intime Bluttaten unter Verwandten zweiten oder noch entfernteren Grades. Solche Vorfälle heimeln auch den modernen Leser an und gewähren ihm Befriedigung.“

(Wolfgang Renner)

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