Kulturrückblick
Kulturrückblick vom 29.08.2016
Goethe-Geburtstag zwischen Heldenfeier und seinem Verschwinden - "Vom Verschwinden Goethes" heißt ein Programm beim Kunstfest Weimar. Ich habe es mir zwar noch nicht angesehen (es läuft noch ein paar Mal in den nächsten Tagen) - aber es hat mich schon mal auf die Frage gebracht: War er denn da? Und wenn ja, wo ist er hin?
Gestern beging man in Weimar, wie jedes Jahr, den Goethe-Geburtstag mit vielen Veranstaltungen: Feierliches im Goethehaus, Lärmendes beim Weinfest vor seiner Haustür, sehr viel Sinnlicheres – wenn der Regen es erlaubt hätte – beim Geburtstagsfest im Park, Ehrendes bei der Verleihung der Goethe-Medaillen, Symbolisches beim Kunstfest in der Stadt, und Politisches beim Treffen der Außenminister des Weimarer Dreiecks – natürlich am Geburtstag Goethes. Die vielen Polizisten in der Stadt hatten weiße Hemden an, die galten freilich der Politikprominenz, machten aber vor dem Goethe-Schiller-Denkmal durchaus auch einen feierlichen Eindruck.
Ja, und dann hat sogar Helge Schneider dem großen Meister seine Aufwartung gemacht, mit einem Schlosshof-Konzert am Vorabend des festlichen Tages... Aber wo war Goethe? Wer ehrte wirklich seine Kunst, sein Werk?
Irgendwo habe ich gelesen, dass Goethe selbst seinen Geburtstag oft auch allein gefeiert hat und der jeweilige Jahrestag der ersten Begegnung mit Christiane Vulpius als Gedenktag ihm viel wichtiger gewesen sei.
Und wenn er mit seinem Enkel den Geburtstag lieber in Paulinzella oder in Ilmenau beging, da feierte ihn die Weimarer Hofgesellschaft trotzdem, in Abwesenheit. Und im Theater wurden ihm gesalbte Reden gehalten...
Da gibt es auch die Legende vom Geburtstag Goethes, den er einst allein in Jena verbrachte und sich dabei im Datum geirrt hat. Er ließ sich schon zum Frühstück eine Flasche Wein kommen, dann eine zweite, und stritt mit dem Diener über das Datum, hatte seinen Irrtum schließlich eingesehen und meinte: Verdammt, jetzt habe ich mich doch umsonst besoffen...
Solche Anekdoten machen den Meister sympathisch, holen ihn herunter vom Olymp. Aber wer – und vor allem weshalb – hat man ihn da erst hinauf gehoben?
Goethes Leben und sein Werk sind in großen Teilen genial. Die Vermittlung, wie man Goethe zu verstehen habe, wurde aber danach in allen Epochen für politische Zwecke inszeniert. Man hat ihm den Olymp geschaffen; darin ist er zweifelsfrei aufgehoben, und man braucht ihn – wie die anderen Götter dort oben – auch nicht mehr recht zu verstehen, nur zu ehren...
Wenn ich Goethes Briefe lese, entnehme ich aber, dass er sich in diesem Olymp eigentlich gar nicht sehr wohl befand, aber zuletzt dennoch darin Schutz suchte für sich...
Und so geschieht es eben noch heute: Man feiert, weil es einen Anlass zu feiern gibt. Und hat ihn aber wieder nicht gelesen, und immer noch nicht verstanden...
Das ist aber kein neues Phänomen; schon zu Goethes Lebzeiten ging es dem Meister so. Als nach den Befreiungskriegen die Romantiker in der Literaturgeschichte führend wurden, da spürte der alte Goethe bereits, dass seine Werke im klassischen Geist nicht mehr „in“ sind. Zuletzt hat er sie, wie den „Faust II“, verschnürt und erst nach seinem Tode öffnen lassen. Die literarische Kritik dazu wollte er sich nicht mehr zumuten.
Dann gab es Jahrzehnte, wo er auf den deutschen Theaterbühnen kaum stattfand, dann gab es wieder Jahrzehnte, da war Goethe ein Muss und wurde hoch gefeiert. So geht es auf und ab in seiner Rezeptionsgeschichte.
Und heute? Alle kennen ihn, sehr viele haben auch Bücher von ihm in ihrem Schrank – aber wäre da nicht die Schule: wer hätte ihn je gelesen? Und selbst im gegenwärtigen Schulunterricht wird er nicht mehr so intensiv behandelt, wie einst – wird von Schülern einfach „abgewählt“: zu alt, zu fremd, zu unverständlich … Und sie wissen gar nicht, was sie tun, weil sie an Goethes Texten manches schöne Wort und manchen Rat, auch manch sinnvolle Reflexion für die eigene Lebensgestaltung, nicht mehr erfahren...
Auch die Klassikstiftung – so hat man manchmal den Eindruck – hebt Goethe derzeit nicht allzu hoch. Nein, man vergisst ihn nicht; dazu ist er zu wertvoll für Tourismus und Stadtführer-Anekdoten, zu wichtig die Termine für Anlässe, um einander zu treffen – vom Weinfest bis zum Weimarer Dreieck – und auch ein Schwarm Forscher beschäftigt sich ja auch mit ihm und seiner Zeit. Aber wer vermittelt Goethe so, damit er wieder anwesend bei uns ist?
Die Nachrichten aus dem Umfeld der Stiftung drehen sich z.Z. eher um Bauhaus und Ernestiner, um Moderne, Residenzen oder Reformation, seltener um Aufklärung, bürgerliche Emanzipation oder eine Vermittlung vom klassischen Geist. Es scheint eben nicht die rechte Zeit dafür...
Und so mag auch das Kunstfest-Projekt „Die Ermittlung“ ein bezeichnendes Beispiel genau dafür sein: An zwei Abenden dieser Woche ließ man am Denkmal auf dem Theaterplatz durch eine virtuelle Lichtinszenierung die Gesichter von Goethe und Schiller verschwinden, hat ihnen neue gegeben und dann die anderen Köpfe sprechen lassen. Als Symbol waren Goethe und Schiller durchaus noch da – tatsächlich aber waren die Klassiker abwesend.
Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich verteufele das nicht, aber finde solchart Abwesenheit Goethes doch zumindest bemerkenswert...
(Wolfgang Renner)