Kulturrückblick
Kulturrückblick vom 05.09.2011
Verrücktes Blut und ein Theaterfest - Antonia Woitschefski:
Die open air- Saison geht zu Ende und die Theater-Institutionen beginnen ihre neuen Spielzeiten. Und zwar drinnen. Du hast Dich nun auch wieder in den Theater-Räumen umgesehen. Wie war der Start in die neue Saison?
Wolfgang Renner:
Am Sonnabend hat das Deutsche Nationaltheater seine Spielzeit mit einem Fest eröffnet. Bevor ich aber auf dieses Ereignis zu sprechen komme, möchte ich noch zuvor von einem eindrucksvollen Theaterabend beim Kunstfest berichten. Der fand zwar schon vor zwei Wochen auf der Bühne im e-Werk statt, hat mich aber seither nicht mehr losgelassen.
Das war dann gewissermaßen für mich der Auftakt zur neuen Spielzeit.
Das Stück hieß „Verrücktes Blut“ und kam von einer Berliner Off- Theater- Truppe. Die Handlung ist schnell erzählt: Eine Schulklasse soll Schillers „Räuber“ lesen und spielen. Null Bock haben die Jugendlichen, weder auf Theater noch auf irgendein anderes sinnvolles Miteinander. Nike Wagner bezeichnete sie in einem Interview als „bildungsresistente Imigrantenkinder“. Da wird der Unterricht mit Macho-Posen, Obszönitäten und fäkalen Ausdrücken boykottiert, da wird gespuckt und gerempelt … bis eine Pistole ins Spiel fällt, welche die Lehrerin zu fassen kriegt. Und nun, mit Hilfe einer Waffe, wird sie die Schüler zum Lesen der „Räuber“ zwingen.
Wir fragen uns derweil, müssen denn Kinder türkischer Einwanderer wirklich den Schiller kennen, um sich zu integrieren? Und sind die Klassiker eh nicht auch den meisten Deutschen völlig unbekannt?
Im Verlauf des Stücks wird dann deutlich, dass Old Schillers Räuber viele Bezüge auch zur Situation dieser Jugendlichen bereit hält: Ob Räuberbande oder Jugendgang; es geht um Befreiung, Aufbegehren, um Gefühle und Beklemmungen, um Liebe und sogar um den Tod. Und es geht um das Spiel, da ja der Mensch nur da ganz Mensch wird, wo er spielt. So jedenfalls Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung der Menschheit.
Die Frage aber bleibt: Kann es eine ästhetische Erziehung mit vorgehaltener Pistole geben? Die Ära der französischen Revolution ist ja längst vorbei. Also, wie viel Zwang braucht Bildung?
Silvie Fischer:
Das sind große Themen in einem Stück, dass als Theater von Migranten angekündigt war. Da erwartet man ja doch eigentlich etwas anderes?
Wolfgang Renner:
Ich hatte, beim Lesen der Ankündigung, zunächst befürchtet, dass es ein Moralstück, vielleicht für und wider Sarazin, werden würde. Nichts davon. Zwar wurden hier alle Register und Klischees zu Sprache, Gesten, Schwächen, Problemen türkischer Bürger gezogen. Wir Deutschen Zuschauer haben da ja mitunter gut lachen. Aber das Lachen über die im Stück oft entstehende Situationskomik bleibt dann meist wieder im Halse stecken.
Übrigens, die pistoleschwingende, eifernde Deutschlehrerin war selbst eine Türkin. Oder genauer: eine Armenierin aus der Türkei, die sich in Deutschland bereits so eingelebt hat, dass man sie als Ausländerin gar nicht mehr erkennen konnte. Dieser Fakt hat das Stück dann völlig gedreht; jetzt ging es plötzlich nicht mehr um Migration in erster Linie, sondern um Aufklärung, um Selbstbefreiung von unzeitgemäßen Konventionen.
Das Ganze war sehr professionell gemacht. Und da muss man noch unbedingt die Spielfreude der Akteure erwähnen: Einfach großartig, ein wirklich gutes Theater. Weil: Es war endlich wieder ein Theater, dessen Thematik angeregt und aufgeregt hat. Ich glaube, die Zuschauer, die das Stück gesehen haben, werden noch eine ganze Weile darüber nachdenken müssen und dazu diskutieren.
Was aber will Theater mehr?
Antonia Woitschefski:
Das macht Lust auf Theater, wenn man das hört.
Damit hat das Kunstfest wohl auch eine Steilvorlage für das Weimarer Theater gegeben?
Wolfgang Renner:
Gewissermaßen ja. Wir werden sehen...
Jetzt wurde dort erst einmal zur Eröffnung der neuen Spielzeit gefeiert:
Mit Feuerwerk, Chanson, mit Bühnen-Ball und Balkan-Jazz am Abend. Der Nachmittag aber war für Kinder und Familien gedacht.
Das dient der Publikumsbindung, sagen die Kulturmanager...
Und dazu gibt es das Allübliche, was man mit Kindern so im Theater macht: Kostüme und Schminken, Malen und Trommeln, Theaterzauber und lustige Geschichten. Eine wunderschöne Geschichte kam am Nachmittag gleich zweimal auf der großen Bühne zur Aufführung: Wenn es Nacht wird im Theater, wenn die Schauspieler und die letzten Bühnenarbeiter das Haus verlassen haben, da beginnt dort ein neues Leben: Gnome und andere Fabelwesen trollen umher, die Tiere aus der Requisite tauchen auf und manch Geisterhaftes spukt im Raum. Viel Unfug geschieht: mit buntem Licht, mit Nebel, Gezisch und Geknall, die Bühne dreht sich – und alles, was die Bühnentechnik so hergibt, wird ausprobiert.
Ein toller, ein spaßiger Theaterklamauk. Manche Kinder haben vor Schrecken dabei geweint. Die allermeisten aber haben sich amüsiert, und werden wohl wiederkommen wollen ins Theater.
Silvie Fischer:
Und was bot dann der Abend im Theater?
Wolfgang Renner:
Das Chansonprogramm am Abend war schaurig schön. Das hat den Bildungsbürger zunächst schockiert, dann aber doch auch amüsiert.
Lauter Totenlieder, interpretiert rund um einen auf der Bühne aufgebahrten Sarg. Sarkasmus pur, höllisch überzogen das Ganze, schauderhaft und lustvoll zugleich, mit toller Damen-Band und Darstellern, die in ihrer Spielfreude teils über sich hinauswuchsen.
Es waren Mitglieder des Schauspiel- wie des Opernensembles vom DNT.
Danach konnte man noch im Hause wandeln: Opern-Arien im Foyer, Lesungen auf der Bühne unterm Dach, Walzer-Ball auf der großen Bühne des Hauses…
– Wann kann man schon mal zur Musik eines solch großen Klangkörpers, wie der Staatskapelle, tanzen? Aber es nahmen nur relativ wenige Tanzpaare dieses Angebot an; möglicherweise hemmt es doch die Tanzlust, wenn in den Rängen zahlreiche Zuschauer sitzen und das Geschehen auf dem Parkett beobachten.
Das änderte sich dann gegen Mitternacht. Draußen, vor dem Hause war das Feuerwerk verzischt. Drinnen auf der Bühne hatte ein elfköpfiges Balkan- Jazz- und Pop- Orchester die Staatskapelle abgelöst. Dieses war nicht schlecht, hatte aber Probleme mit der Klangtechnik. Die meist jungen Leute, die um diese Zeit noch im Haus umherschwirrten, störte das aber nicht. Sie hatten sich alsbald den Bühnenvorraum erobert und tanzten auf ihre Weise.
Ich glaube, die Gnome vom Nachmittag haben sich da vor Schreck noch viel tiefer in die Kulissen und unter den Bühnenboden verkrochen, weil sie solch einen turbulenten und langen Abend im Theater während der Spielzeit nur selten erleben...
Antonia Woitschefski:
Der Spielzeit-Auftakt mit viel Spektakel war demnach gelungen.
Nun also auf in eine neue Saison! Wir werden sehen, ob das mit der Publikumsbindung dann auch klappt...
(Wolfgang Renner)