Kommentar
Kommentar vom 28.10.2014
Armes Deutschland! - Drei völlig verschiedene Meldungen und überall die gleichen Kommentare:Da wird ein Rentner verurteilt, der in Sittensen einen 16jährigen albanischen Einbrecher erschossen hat, da sind Fotos von einer schrecklichen Obdachlosenunterkunft in Apolda aufgetaucht und dann sind da die Hoolignas von Käln, die angeblich gegen Salafisten protestieren. Und zu all diesen Meldungen gibt es seitenweise Kommentare. Von Frauen und Männern, von jungen und alten Menschen, mit gruseliger Rechtschreibung und perfekter Orthografie. Und die meisten schreiben: es reicht. Deutschland ist in Gefahr. Und die Ausländer sind an allem schuld. Am Elend der Obdachlosen, weil alles Geld für Flüchtlingsheime ausgegeben wird, am Kummer des Rentners, weil er ja schließlich in Notwehr gehandelt habe und sowieso alle Ausländer kriminell seien, an den Ausschreitungen von Köln sowieso, weil der Staat ja nichts gegen die Salafisten tut und also die Hooligans gar nicht anders konnten. Die Menschen, die das anders sehen, schweigen. Zumindest im Netz. Zumindest auf den Kommentar-Seiten, durch die ich mich, mit zunehmendem Abscheu, gekämpft habe. Nach der Eskalation der Demonstration von Rechtsextremen und Hooligans in Köln hat Bundesjustizminister Heiko Maas ein entschiedenes Vorgehen angekündigt. "Wer Gewalt in Deutschlands Städte trägt, der muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats verfolgt und bestraft werden", erklärte er. Ist also mehr Polizeigewalt die Lösung? Man könnte bei all diesem Elend, dieser Dummheit und Ignoranz den Verstand verlieren ... vorausgesetzt, man verfügt über ausreichend Verstand, den man verlieren kann. Aber bei den hier auftretenden Gruppen ist aber gerade die Abwesenheit eines solchen, kombiniert mit Destruktivität und Angst der Motor, die wertvollsten Bestandteile unseres Grundgesetzes zu beschädigen. Dabei ist es auch egal, welche Nationalität einer hat, welche Ideologie oder Religion er vertritt oder ob es sich einfach nur um Spaß am Krawall handelt. Letztendlich ist nämlich das, was daraus erwächst, das Problem. Hass, Angst, Unsicherheit im täglichen Leben, Einschränkung persönlicher Rechte, Ausgrenzung und vor allem noch mehr Kontrolle durch staatliche Organe. Ein Sprecher des Innenministeriums teilte mit, die Bundesregierung verfolge die Ausschreitungen "mit Aufmerksamkeit und Sorge, aber ohne Angst oder Panik". Es seien gewisse Tendenzen zu erkennen, aber man könne wohl noch nicht von einer "neuen Qualität" sprechen. Das sehe ich anders. Wenn für jedes Problem mittlerweile die Ausländer verantwortlich, wenn rechte Parolen inzwischen gesellschaftsfähig sind – dann hat das Ganze eben doch eine neue Qualität erreicht. Und wo liegen die Gründe dafür? Vielleicht dort, wo Toleranz mit Wegschauen verwechselt wird? Die Angst vor dem Islam und vor gewaltbereiten Ausländern ist bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die AfD spricht vom Problem der kriminellen Zuwanderer und hat massenhaften Zulauf. Warum waren in Köln nicht zig-tausende Gegendemonstranten vor Ort ? Weil wir uns zu Hause ins Wohnzimmer verziehen und auf den Staat schimpfen wollen? Ich finde es erbärmlich, was aus dem Demokratieverständnis in diesem Lande geworden ist. Diese Aufmärsche sind doch nur möglich, weil wir uns in der nächsten Ecke verstecken und wegsehen. Gerade jetzt, wo der NSU-Prozess so vieles Erschreckende zu Tage fördert, täte Aufklärung not. Information. Statt dessen allerorten nur Beschwichtigungsversuche. Liebe Demokraten - redet mit den Leuten, statt sie zu verteufeln. Geht an die Stammtische, wenn sie nicht zu den Info-Veranstaltungen kommen. Tut nicht alle Zweifler als Nazis ab. In Deutschland herrscht Meinungsfreiheit. Deswegen lässt man auch Hooligans demonstrieren, wenn sie das wollen. Und deswegen dürfen Salafisten ihren Glauben verbreiten, solange sie das gewaltfrei tun. Das ist kein Missstand, sondern eine Grundfeste der Demokratie, ob das allen passt, oder nicht. Die Grenze ist da erreicht, wo es zu Gewalt oder Hetze, also Aufforderung zur Gewalt, kommt. Und das passiert derzeit täglich. Tausendfach. Im Netz, in manchen Zeitungen, an Stammtischen. Die Hooligans sind zwar nicht DIE Bevölkerung, aber ich bin mir sicher, dass große Teile derselben, das Demo-Motto zumindest bedenkenswert finden! Wir schicken lieber Waffen ins Ausland, weil wir unsere Freiheit durch so genannte Gotteskämpfer an der Grenze zur Türkei gefährdet sehen. Aber kümmern wir uns darum, dass hier, vor unserer Haustür, solch ein tiefschwarzer Sumpf entsteht? Eine Demokratie ohne demokratisches Bewußtsein ist zum Scheitern verurteilt. Demokratisches Bewußtsein bedeutet, daß der Bürger sich einmischt und sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlt. Und hier sehe ich das große Problem in unsere heutige Zeit. Die gesellschaftliche Mitte ist zu einer schweigen Mehrheit verkommen, die wenigen radikalen Akteuren das Feld überlässt. Und egal, ob wir am Ende mit dem einverstanden sind, was die tun, wir alle sind schuld daran. Denn wir haben es zugelassen.
(Grit Hasselmann)