Kommentar
Kommentar vom 22.09.2015
Kennen Sie "Die Reise nach Amerika"? - Ganz recht, ich meine dieses Gesellschaftsspiel, bei dem man im Kreis herum geht und nach und nach Dinge auf den Arm nimmt, die man auf eine fiktive Reise nach Amerika mitnehmen möchte. Natürlich trägt man die nicht selbst, sondern man sucht sich einen Begleiter, der all die schönen Sachen tragen muss. Zum Vergnügen aller. Das Spiel endet in dem Moment, wenn der Mitspieler bemerkt, dass er – oder sie – allein diejenige ist, der oder die die Last zu tragen hat. Ein durchaus heiterer Moment.
Viel weniger heiter war der Moment in der vergangenen Woche als 50 Flüchtlinge mit einem Bus aus der Erstaufnahme in Mühlhausen in Weimar ankamen. Wenn auch ein wenig Erleichterung in den Blicken der Ankommenden mitschwang, so sind die schweren Momente im Verlauf dieser Flucht noch lange nicht vorüber.
Für uns als Beobachtende dieser Ankunft aber zeichnete sich ein Bild, welches ich so bald nicht vergessen werde. Die 50 Menschen, darunter über ein Dutzend Kinder, stiegen aus dem Bus und gingen unsicher zunächst in den Saal der Stadtverwaltung, um sich dort registrieren zu lassen. Die Begleiter luden inzwischen das Gepäck aus dem Fahrzeug und legten es vorsichtig auf den Gehsteig. Und da standen sie nun, die Koffer, die Permanent-Tragetaschen, Plastiktüten oder Stoffbeutel und schienen stumm eine kleine Geschichte zu erzählen. Das Gepäck, verglichen mit meinen eigenen erlebten Umzügen, hätte wohl gut in einen geräumigen Kleinbus hineingepasst. Kein Problem.
Doch plötzlich wurde mir bewusst, diese Dinge, die da vor mir auf der Straße liegen, sind alles – ich betone: ALLES, was diese eben angekommenen 50 Menschen besitzen. Da gibt es nicht noch einen Transporter, der schon mal mit den anderen Sachen zur künftigen Unterkunft vorgefahren ist, da gibt es nichts, was man sich ggf. einfach mal nachschicken lassen könnte. Diese Menschen, die in diesen Wochen hier in Europa ein neues Zuhause, ja vielleicht ein neues Leben suchen, die haben einfach nicht mehr als das, was sie auf dem Leib oder vielleicht in den Taschen mit sich tragen. Für mich ist es unvorstellbar, dass angesichts dieses Bildes Menschen behaupten, hier würden lediglich Wirtschaftsflüchtlinge ankommen, die uns die Butter vom Brot klauen wollen. Unvorstellbar!
Ich versuche mir darüber klar zu werden, was ich wohl mitnehmen würde, müsste ich mich zu einem Neuanfang irgendwo auf diesem Planeten aufmachen. Ja, was würde ich mitnehmen wollen und – viel wichtiger, was würde ich mitnehmen können? Jedes Papier, von Büchern ganz zu schweigen, hätte sein Gewicht, jeder Stift, jede Trinkflasche, jede Landkarte. Was wäre wenn hier plötzlich ein Krieg vom Zaun gebrochen würde, was wäre wenn plötzlich ein Atomkraftwerk zusammenbricht oder explodiert, und ich nicht mehr hier leben könnte und einfach das Weite suchen müsste? Was würde ich dann mitnehmen? Günstigstenfalls hätte ich ein Fahrzeug zur Verfügung, doch wenn man mich an der Grenze nicht weiterfahren ließe damit? Was dann?
Das Weiterdenken in dieser Frage überfordert mich offen gestanden. Zunächst fallen mir lauter nutzlose Dinge ein. welche ich mitnehmen würde wollen. Dann doch die ganz sinnvollen. Doch das, was mich ausmacht, was bislang mein Leben wirklich prägte, darauf würde ich wohl verzichten müssen. Eine schlimme Vorstellung, ehrlich.
Bevor also irgendwo jemand den Begriff Asylbetrüger, Sozialschmarotzer oder was auch immer dieser Tage manchmal in die Runde geworfen wird, auch nur denken mag, sollte sich dieser jemand mal Gedanken über die wirkliche Situation derer machen, die hier bei uns im reichen Europa, dieser Tage um Aufnahme bitten.
Was dieser kleine Haufen Gepäck aber auch zeigt ist, es kommt überhaupt nicht zwingend auf das Materielle im Leben an. Irgendwie geht die Hoffnung, diesbezüglich neu anfangen zu können, nicht verloren. Das Gepäck, welches die Ankommenden aber in ihren Köpfen und ihren Herzen mit sich tragen, wiegt zwar kein messbares Gramm, kann aber dennoch schwerer als ein voller Möbelwagen sein. Helfen wir diesen Menschen also beim Tragen dieser Last, die Dummen, wie beim Spiel „Die Reise nach Amerika“, werden wir mit Sicherheit nicht sein.
(Shanghai Drenger)