Kommentar
Kommentar vom 31.01.2003
Erhebende Ereignisse - Der große Philosoph Karl Jaspers hat schon 1945 erkannt, ich zitiere: "Was und wie wir erinnern, und was wir darin als Anspruch gelten lassen, das wird mit entscheiden über das, was aus uns wird."
Was aus uns geworden ist, mag in einer Woche, in welcher zwei Gedenktage begangen wurden, die richtige Frage für einen Wochenrückblick sein.
Es hat erhebende Ereignisse gegeben diese Woche in Thüringen. Der Literatur-Nobelpreisträger und einstige Buchenwald-Häftling Imre Kertesz las am Gedenktag für die Opfer des Holocaust am Montag in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald aus seinem erschütternden "Roman eines Schicksalslosen". Der Weimarer Oberbürgermeister Volkhardt Germer hat in seiner bemerkenswerten Rede auf dem gestrigen Mahngang anlässlich des 70. Jahrestages der Machtübergabe an die Nazis auf Kerteszs' Rede Bezug genommen. Überhaupt gab es auf dem Mahngang, zu welchem - je nachdem, wie man es sieht - "nur" oder "immerhin" rund 200 Personen gekommen waren, ein paar bemerkenswerte Redebeiträge. Neben Germer sprach gestern auch der ehemalige Buchenwald-Häftling Ottomar Rothmann, der über die Geschichte seiner eigenen Verhaftung durch die Gestapo Bezug zum historischen Datum nahm. Streitbar auch, was eine Vertreterin der Besetzer und Besetzerinnen des "Topf & Söhne"-Geländes in Erfurt zu sagen hatte: ein überaus deutschlandkritischer Beitrag zu einem in ihren Augen heuchlerischen und falschen Gedenken und einer ganz grundsätzlich verfehlten Art mit Geschichte umzugehen und eben aus ihr zu lernen.
Ein Vertreter der Opferberatungsstelle ABAD in Erfurt holte die Zuhörer gestern Abend in eine gnadenlose Realität zurück. Diese Realität wurde heute morgen noch durch die Meldung über einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim im ostthüringischen Greiz aktualisiert. Diese gnadenlose Realität macht es einem bisweilen schwer, eben nicht doch jene unzulässigen historischen Parallelen etwa zu 1933 zu ziehen, vor denen Bundestagspräsident Thierse am 27. Januar gewarnt hatte, weil diese Parallelen Hohn gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus seien.
Der ABAD-Vertreter gedachte gestern Abend des jüngsten Opfers deutscher Neonazis, das an eben jenem Gedenktag am Montag seinen schweren Kopfverletzungen erlag, welche es sich bei einem Angriff Rechter zugezogen hatte. Dennoch haben alle Rednerinnen und Redner es unterlassen, falsche und verharmlosende historische Vergleiche zu ziehen, die in diesem Lande leider allzu häufig im Schwange sind. Nur eine hochgestellte Persönlichkeit konnte es wieder nicht lassen - der Thüringer Sozialminister Frank-Michael Pietzsch.
Vorgeschichte: Nach dem Nazi-Angriff in Erfurt hatten Unbekannte, die in der linken Szene vermutet werden - womöglich als Antwort auf die brutale Attacke - ein als Nazitreff bekanntes Tätowierungs-Geschäft und das Büro des Bundes der Vertriebenen angegriffen. Pietzsch sah sich zu folgender völlig schiefen Bemerkung veranlasst: "Wer ausgerechnet am Gedenktag für die NS-Opfer mit Steinen auf die Geschäftsstelle der Heimatvertriebenen wirft, schadet auch dem Ansehen der freiheitlichen Demokratie insgesamt."
Das ist natürlich Unsinn: denn das eine hat mit dem anderen in dieser Weise nichts zu tun. Die Heimatvertriebenen gehören nicht zu den Opfern des Nazi-Regimes, viele von ihnen gehörten wohl eher zu den Tätern. Einige machen daraus auch kein Hehl: Gestern konnte man in der Zeitung lesen, das der einstige Thüringer Vertriebenen-Vorsitzende und ehemalige Bundesvize dieses als revisionistisch eingeschätzten Verbandes, Paul Latussek, wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt wird. Er hatte ausgerechnet am 9. November 2001 die Zahl der Opfer des Vernichtungslagers Auschwitz als Lüge bezeichnet.
Insofern wird auch Menschen, die sonst nichts von derartigen symbolischen Sachbeschädigungen wie in Erfurt halten, durch den Kopf geschossen sein, dass es mit dem Bund der Vertriebenen so ganz den Falschen nicht erwischt hat - und zwar gerade am 27. Januar.
(Friedrich C. Burschel)