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Kommentar

Kommentar vom 05.10.2010

Milliarden für Minuten - Es ist ein Rückfall tief in die Achtziger Jahre. Was letzte Woche in Stuttgart geschah, glaubte man längst überwunden in Deutschland. Irrtum. In den Achtziger Jahren versuchte die Staatsgewalt Großprojekte wie die Startbahn West am Frankfurter Flughafen oder die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen und ging mit äußerster Härte vor. Dabei kam es auch zu Todesfällen. Seit der Wiedervereinigung ist die Protestbewegung erstarrt; 20 Jahre lang.

Dass sie ausgerechnet im braven, biederen und bürgerlichen Stuttgart wieder zum Leben erweckt wird, ist schon kurios. Gewiss, das Projekt „Stuttgart 21“ ist unsinnig, da Milliarden verbaut werden sollen, um wenige Minuten Zeit einzusparen. Gewiss, der Bahnhof, der zur Zeit abgerissen wird, war denkmalgeschützt. Gewiss, ein Kopfbahnhof ist unendlich bequemer. Gewiss, die Bäume, die gerade im Schlossgarten gefällt werden, waren weit über 100 Jahre alt und nicht so schnell zu ersetzen. Dennoch überrascht die Heftigkeit des Protests. Er zeigt, dass die Ohnmacht gegenüber der Staatsgewalt übermächtig geworden war. Lange Zeit brodelte es in den Menschen wie in einem Vulkan, der nun zum Ausbruch kommt. Somit wird „Stuttgart 21“ zu einem doppelten Symbol: zum einen für die Selbstherrlichkeit des Staates, der seine Projekte ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen möchte, zum anderen für die Renaissance der Protestkultur in diesem Lande.

Ob es sonderlich klug war, massiv mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen Demonstranten - teilweise Kinder, teilweise Rentner – vorzugehen, wird sich zeigen. Politik und Establishment erleiden einen weiteren Vertrauensverlust, sorgen für eine zunehmende Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft. Letzte Woche gab es über 100 Verletzte; das nächste Mal kann es auch Tote geben.

Unerträglich auch die Reaktionen der Verantwortlichen. Mit seiner selbstherrlichen Arroganz hat Ministerpräsident Mappus wohl sein politisches Grab geschaufelt. In fünf Monaten wird im Ländle gewählt. Vor 30 Jahren gab es dort die erste Landtagsfraktion der Grünen in Deutschland. Gut möglich, dass es dort auch den ersten grünen Ministerpräsidenten geben wird.

Der Eskalation die Krone auf setzt aber eindeutig Bahnchef Grube. Er spricht den Demonstranten gar das Recht auf Widerstand ab. Der Schuss geht aber nach hinten los, denn schon ertönen Rufe, die Bahn zu boykottieren. Immerhin ist Grube erschreckend ehrlich, wenn er sagt, dass in Deutschland allein Parlamente entscheiden, und sonst niemand. Damit meint er, das Volk habe nichts zu sagen. Nur die Macht der Wirtschaft, die massiven Einfluss auf die Parlamente nimmt, verschweigt er. Jetzt fehlt nur noch, dass jemand folgendes verkündet: „Den Kapitalismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf.“

(Oliver Kröning)

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