Kommentar
Kommentar vom 09.11.2010
Was darf man am 9. November sagen? - 9. November: Deutschlands Schicksalstag. 1918, 1923, 1938 und 1989 fanden einschneidende Ereignisse statt, die unsere Historie veränderten. 1938 wurden Synagogen und jüdische Geschäfte geplündert und in Schutt und Asche gelegt; im Volksmund auch als Reichskristallnacht bekannt. Alljährlich wird daran in vielen deutschen Städten erinnert. Die wichtigste Gedenkveranstaltung findet in der Paulskirche zu Frankfurt statt. Als Redner eingeladen wurde in diesem Jahr Alfred Grosser. Er wurde 1925 in Frankfurt geboren, ist jüdischer Herkunft und flüchtete 1933 mit seiner Familie nach Paris. Nach dem Krieg spielte der zutiefst humanistisch geprägte Soziologe und Publizist eine wesentliche Rolle bei der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland.
Doch gegen seine Rede in der Paulskirche gibt es im Vorfeld massiven Widerstand. Nicht etwa von alten oder neuen Nazis, sondern von führenden Vertretern des Zentralrats der Juden in Deutschland. Denn Grosser wagt es, auch für die Palästinenser eine Menschenwürde zu fordern. Da er als Kind das Unrecht an den Juden unmittelbar erlebt hat, ist es für ihn geboten, auch das Unrecht, das der jüdische Staat begeht, zu thematisieren. Dies missfällt etwa Salomon Korn, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Frankfurt. Er nennt Grosser einen – so wörtlich - „nützlichen Idioten“, der sich vor den Karren irgendwelcher Antisemiten spannen lasse. Noch einen Schritt weiter ging Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden. Er forderte gar eine Ausladung Grossers.
Erfreulicherweise lässt sich die Stadt Frankfurt und ihre Oberbürgermeisterin Petra Roth nicht erpressen. Grosser bleibt der Hauptredner und das ist auch gut so. Noch nie gab es so viel Unverständnis darüber, dass der Zentralrat auch in dieser Frage versuchte, der deutschen Politik Vorgaben zu machen und damit die Meinungsfreiheit zu untergraben. Wir erleben gerade zweierlei: erstens emanzipiert sich die deutsche Politik von zionistischer Bevormundung und zweitens stellt sich der Zentralrat noch weiter als bislang ins Abseits. Eines darf man nämlich nicht übersehen: auch innerhalb der Juden ist der Zentralrat höchst umstritten. Die völlig fehlende Kritik an der Politik des Staates Israel erzürnt immer mehr aufrechte Juden in Deutschland. Die Affäre Grosser ist längst zur Affäre Zentralrat geworden.
Grosser hat angekündigt, dass er in seiner Rede heute Nachmittag in der Paulskirche neben dem Gedenken an 1938 auch auf das Unrecht Israels gegenüber den Palästinensern eingehen wird. Es ist zu befürchten, dass etliche Vertreter des Zentralrats dann für einen Eklat sorgen werden. Sie wären gut beraten, dies zu unterlassen - und somit eine weitere Zunahme des Antisemitismus zu verhindern.
(Oliver Kröning)