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Kulturrückblick

Kulturrückblick vom 14.03.2011

Seitenblicke - Am Sonntag, dem 13. März gab es eine Veranstaltung im DNT, die hatte den Titel „Seitenblicke“. Bei einem Seitenblick – da denkt man zunächst an einen unbemerkten, vielleicht auch schrägen - Blick, der womöglich etwas Absonderliches erhaschen will.
Antonia Woitschefski sprach mit Wolfgang Renner.

Antonia Woitschefski:
Galt das auch für das Theater in Weimar?

Wolfgang Renner:
Nein; dort verstand man den Seitenblick eher als eine Abschweifung von einem Thema, indem man sich mal etwas Zeit nimmt, nach rechts und links zu schauen und dabei aller mögliche Beziehungen herstellt. So jedenfalls ist der konzeptionelle Ansatz für eine Matinee-Reihe, die in loser Folge im Foyer I des Nationaltheaters stattfindet. Und das Thema der gestrigen „Seitenblicke“ galt (nicht nur Goethes) „Wahlverwandtschaften“.

Goethes Roman aus dem Jahre 1809 wurde ja jetzt auf die Weimarer Bühne gebracht. Vor gut einer Woche hatte das Stück Premiere. Claudia Meyer, die Regisseurin dieser Inszenierung, zeichnet auch verantwortlich für den Text der Bühnenfassung.
Und solch einen Bühnentext auf Grundlage des Romans zu schaffen, das war durchaus ein Wagnis. Wer sich einmal bemüht hat, diesen Roman, - das vielschichtige und philosophische -, Werk des Meisters der Weimarer Klassik, zu lesen, der wird wissen, welch schwieriger Aufgabe sich da Claudia Meyer gestellt hat.

Aber bei den „Seitenblicken“, die am Sonntag Vormittag,
- gewissermaßen zur Erbauung in der Zeit zwischen Kirchgang und Thüringer Klößen -, stattfanden, ging es eigentlich gar nicht so sehr um das Stück selbst; es dies war nur Anlass oder Ausgangspunkt.
Der Moderator Martin Kranz hatte eine Runde an Gästen geladen, die aus sehr verschiedenen Blickwinkeln zu Wahlverwandtschaften, und also zu Beziehungen, sprachen: Neben dem Dramaturgen des Stücks, Daniel Richter, und dem Schauspieler Nico Delpy, der im Stück einen Ver- oder Er-Mittler spielt, saßen da auch noch im Podium Dr. Bernhard Post vom Weimarer Verein „Grüne Wahlverwandtschaften“ und die Paar-Therapeutin Christiane Dietrich.
Und dann waren tatsächlich auch Landschaften und deren Gestaltung bzw. Nutzung, Familien- und Liebesbeziehungen, Fragen der Affinität und Wechselwirkung überall in unserer Gesellschaft ein Thema dieser Sonntag-Morgen-Gespräche. Das war durchaus anregend. Und Martin Kranz hat die Stunde souverän moderiert.

Antonia Woitschefski:
Wahlverwandtschaften: Das ist ja eigentlich ein Begriff, der aus der Chemie stammt. So zumindest las ich es im Vorfeld zu dieser Inszenierung. Was hat die Chemie mit all den Fragen zu tun?

Wolfgang Renner:
Um das zu klären, müssen wir jetzt selbst solch einen Seitenblick wagen: In der Naturwissenschaft bedeuten Wahlverwandtschaften das Aufeinandertreffen von verschiedenen Stoffen und ihre unterschiedlichen Reaktionen darauf: Sie können sich bei einer Begegnung aus bisherigen Verbindungen lösen und neue Verhältnisse eingehen, sie können sich dabei auch für immer unauflöslich mischen, – oder sie können, falls sich die Verhältnisse ändern, wieder in ihren alten Zustand zurückkehren. Ja, und Goethe hat in der Handlung des Romans diese Naturphänomene auf die kleinsten Zellen der Gesellschaft, nämlich auf Familien und Liebespaare zurückgeführt. Aber im Kern seines Werkes führt er den Leser ganz unmittelbar hinein in die großen Fragen der Philosophie: Kann man solche Prozesse der Natur auf das menschliche Dasein übertragen? Beherrscht der Mensch mit seiner Gestaltung überhaupt die Natur? Oder ist er eher einem Schicksal ausgeliefert und wird er in seinem Streben nach Perfektion, das ihn über die Natur erheben soll, letztlich immer nur der Versager bleiben?

Und wer sich, ausgehend vom Theater, solchen Fragen stellt, der ist mit seinen Gedanken derzeit beispielsweise dann auch ganz aktuell bei den Umweltkatastrophen in Japan oder denkt an andere gesellschaftliche Veränderungen.
Wer es aber lieber eine Nummer kleiner haben will, der fand Bezüge selbst zum herrlichen Sonntags-Frühlingswetter gestern.

Da sitzt man also am Sonntag morgen im Theaterfoyer, hört den interessanten Diskussionsbeiträgen zu, und muss wieder einmal mehr feststellen, dass Goethe – das Universalgenie – auch zu solchen modernen Ereignissen eine Antwort - wenigstens aber eine Anregung - zu geben vermag.

Antonia Woitschefski:
Nun muss ich doch noch die Frage stellen: Hat denn solch ein großes, komplexes Thema auch auf einer Theaterbühne genügend Platz?

Wolfgang Renner:
Es würde jetzt zu weit führen, wenn ich den gesamten Inhalt erklärte. Nur so viel: Bei Goethe endet der Roman tragisch. Auch die Theaterfassung von Claudia Meyer endet tragisch.
Goethe bringt im Buch viele Saiten zum Klingen. Claudia Meyer dagegen schaltet das Emotionale teils aus. Das meint nicht, dass viele ihrer Bilder nicht auch sehr ergreifend und berührend gewesen wären. Aber die Inszenierung selbst ist sehr sachlich, ganz ohne Pathos, spartanisch fast, und zeitlos angelegt – also auch sehr heutig, und sie ist in der Komposition ineinander verschachtelter Zeitebenen auch an die medialen Sehgewohnheiten der Moderne angepasst.

Das Theater ersetzt aber nicht das Buch. Und wäre der Stoff dramatisch besser behandelbar gewesen, gäbe es vielleicht die Bühnenfassung auch von Goethe selbst. Nach meiner Auffassung konnte das Stück, an Goethes Philosophie und Wortmächtigkeit gemessen, eigentlich nur scheitern. Scheitern wie auch jene Protagonisten im Stück, die Liebe und menschliche Beziehungen berechenbar machen möchten und perfektionieren wollen, ebenso wie beispielsweise eine Landschaftsparkgestaltung oder das Aufeinandertreffen, Einander- Begegnen, von Menschen.
Zum Glück aber hat die Inszenierung – so glaube ich zumindest – gar nicht erst versucht, dem Werk Goethes dramatisch perfekt gerecht zu werden. Und unter solchem Aspekt besehen, fand ich – im Gegensatz zu mancher Premieren-Kritik in der Presse -, das Stück überhaupt nicht langweilig. Ja, es war – nicht zuletzt dank der „Seitenblicke“ am Vormittag – durchaus auch verständlich und nachvollziehbar.
Goethe selbst hatte ja beim Erscheinen des Romans prophezeit, dass ihn der Leser wohl nicht verstehen werde...

Dass das Weimarer Nationaltheater dennoch den Versuch unternommen hat, diesen Stoff – jene schwere Kost – über die Bühne zu vermitteln, ist daher sehr lobenswert. Denn, wer liest heute schon noch Goethes Romane, wenn er nicht muss.
Ich habe jedenfalls über „Seitenblicke“ und Theateraufführung die Entdeckung gemacht, dass es in Goethes Romanen auch immer noch viel zu entdecken gibt...

(Wolfgang Renner)

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