Kommentar
Kommentar vom 26.07.2011
Überwachungsfreistaat Sachsen - 19. Februar 2011 in Dresden. Nazis demonstrieren; und natürlich auch Antifaschisten. So wie auch in den Jahren zuvor. In diesem Jahr kommt es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige Beamte werden verletzt und die Polizei ermittelt, aber ganz offensichtlich deutlich über das Ziel hinaus, was in einem Rechtsstaat als zulässig erachtet werden kann. Es wurden mehr als eine Millionen Mobilfunkdaten gesammelt, von mehr als 40.000 Mobilfunkkunden, die an diesem Tag in Dresden telephoniert haben, werden Namen, Adressen und Geburtsdaten ausgewertet. Das ist der aktuelle Stand, der seit gestern bekannt ist. Vor einem Monat haben Sachsens Innenminister Ulbig (CDU) und Justizminister Martens (FDP) nur von 460 betroffenen Menschen gesprochen. Jetzt sind es auf einmal fast 100-mal so viele. Man kennt es ja; nicht nur Politiker geben meist nur soviel zu, wie nicht mehr geleugnet werden kann. Fand also kurz vor der Sommerpause eine gezielte Täuschung der Öffentlichkeit statt und hoffte man, dass während des Sommers Gras über die Sache wächst? Oder wussten es die Minister selbst nicht besser? Und was weiß überhaupt Ministerpräsident Tillich? Was man dagegen weiß, ist, dass die CDU im Freistaat Sachsen in vielerlei Hinsicht nach Gutsherrenart regiert und sich Dinge erlaubt, die in anderen Bundesländern kaum denkbar sind. In so fern muss die Frage, ob der dienstliche Übereifer des sächsischen Polizeiapparates von höchster politischer Ebene gedeckt wird, unbedingt auf die Agenda und darf nicht vergessen werden.
Aber – wird jetzt so mancher sagen – ist es nicht angebracht, so viele Daten wie möglich zu sammeln, um Verbrechen aufzuklären? Und mancher Zeitgenosse wird sich nicht entblöden, zu behaupten, dass diejenigen, die nichts zu verbergen haben, auch nichts befürchten müssen. Und gar mancher wird in schäbiger Weise das Doppel-Massaker von Oslo heranziehen, um Schnüffelei und Überwachung zu rechtfertigen. Aber kein Terrorakt der Welt, so barbarisch er auch sein mag, darf dazu instrumentalisiert werden, um die Idee der Freiheit gegen den Wunsch nach Sicherheit auszuspielen. Freiheit und Sicherheit sind die beiden Pfeiler der Demokratie und wenn man eine Seite ungleichmäßig gewichtet, stürzt das ganze Gebäude ein. Natürlich muss gegen die Verdächtigen der Dresdner Gewaltexzesse ermittelt werden, aber es kann nicht sein, dass mehr als 40.000 Menschen unter Generalverdacht gestellt werden – zumal die Dresdner Polizei schon 2010 bei einer anderen Demonstration sich völlig überzogener Maßnahmen bediente. In Dresden wurde in erheblichem Maße gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen – und das darf nicht ohne inhaltliche und personelle Konsequenzen bleiben. Sonst hätte man es 1989 auch sein lassen können mit dem Skandieren von „Wir sind das Volk!“.
(Oliver Kröning)