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Buchrezension

Buchrezension vom 09.11.2011

"Entrissen" von Katrin Behr und Peter Hartl - Die Autorin Katrin Behr war vier Jahre alt, als die Stasi im Jahr 1972 ihre alleinerziehende Mutter mitnahm. Das Kind wurde zunächst zur Großmutter und wenig später in ein Kinderheim verbracht. Auch ihrem wenige Jahre älteren Bruder erging es nicht anders.
In ständiger Ungewissheit lebend und angesichts des Versprechens ihrer Mutter, bald wieder zu kommen, stark verunsichert, erlebt ein kleines Mädchen sehr emotionale Situationen.
Die Erwachsenen, wie in jener Zeit üblich, unternehmen nicht einmal einen Versuch, der Kleinen zu erklären, was mit ihr passiert. Einzig eine der Erzieherinnen im Heim steckt Katrin, dass ihre Mama „eine Staatsverräterin“ sei und sowieso niemals wieder zurück kommen wird. Dies ist jedoch weniger ein Erklärungsversuch, als eher eine gezielte Demütigung. Die Gründe dafür werden sich Katrin niemals erschließen.

Nach einiger Zeit soll Katrin zu neuen Eltern kommen. Innerlich enttäuscht von der leibhaftigen Mutter geht sie diesen Weg. Vielleicht gibt es sowas ja wirklich: neue Eltern.
Nach mehreren Versuchen hier und dort findet sie dann schließlich wirklich ein neues Zuhause. In einer Geraer Reihenhaussiedlung, die „Mutti“, wie sie ihre neue Erziehungsberechtigte nennt, ist Russischlehrerin, aktive Parteigängerin, der „Vati“ Maurer, der auch mal bei anderen nach Feierabend etwas dazu verdient.

Katrin wird nach gut sozialistischen Maßstäben erzogen, wird eingeschult, tritt in die Pionierorganisation ein und geht den ganzen unauffälligen Weg. Ein ganz normales Leben könnte man denken, doch niemand ahnt, was in dem Mädchen vor sich geht. Immer wieder, trotz allem, taucht ihre Mutter vor ihrem inneren Auge auf, in der Einnerung zwar nur, aber dieses Nichtloslassen-Können nagt. Irgendwann versucht Katrin mit der „Mutti“ darüber zu reden. Wer ist eine wirkliche Mama, fragt sie, warum kommt sie nicht zurück, wie sie es mir versprochen hat?
Die Mutti versucht zu erklären, halbherzig, ängstlich vielleicht, denn Katrin ist für sie wirklich eine Tochter geworden: ihre Mama wäre unzuverlässig gewesen, hätte sich nicht gekümmert, hätte zu viele Parties gefeiert. In der Erinnerung des Mädchens ist nichts davon.

Katrin Behr beschreibt und offenbart in „Entrissen“ vielschichtige Gefühlsebenen. Die Leser können einerseits erschüttert sein, über die Ausgangslage, sie können andererseits Unverständnis empfinden, angesichts der heranwachsenden Katrin, welche, obschon sie die Zweisprachigkeit der Gesellschaft kennen lernt, kaum den Ansatz von Protest zeigt. Sie können wütend sein über eine ignorante Ersatzmutter, die scheinbar ganz parteidienlich agiert und kaum wirklich zu Mutterliebe fähig scheint.
Gerade auch Katrins späterer Berufswunsch, selbst Soldatin bei der Volksarmee zu werden, treibt dieses Unverständnis beinahe auf die Spitze. Doch schnell werden die Leser auch bemerken: Moment bitte, was wir gerade wissen, das konnte die Jugendliche von damals gar nicht kennen. Und so werden auch diese für die Situation abstrusen Ideen nachvollziehbar.

Als Katrin älter wird, lebt sie weiter mit ihren verschiedenen Müttern, die eine ist da, die andere nur im Kopf. In der Pubertät werden die Diskrepanzen größer und Katrin versucht sich vom Elternhaus zu entfernen. Der Soldatenjob scheint eine Lösung zu sein, doch viele raten ihr davon ab. Sie beginnt schließlich eine Ausbildung im Gesundheitswesen. Die Hoffnung auf einen Internatsplatz, der den gesuchten Abstand vom Elternhaus und Eigenständigkeit bedeutet hätte, zerschlägt sich allerdings bald, denn Katrin lernt im Heimatort und kann – oder muss – weiterhin zu Hause wohnen.

Später dann heiratet sie einen Soldaten, wohl auch eher mit dem Hintergedanken endlich wegzukommen aus Gera, weit weg möglichst, denn ihr Mann ist auf Rügen stationiert. Er ist Politoffizier und glaubt tief und fest an das System.
Katrin arbeitet am Stationierungsort als Kindergärtnerin. An den politischen Gegebenheiten zu zweifeln, fällt ihr gar nicht ein. Für Politik interessiert sie sich sowieso nicht.
Sie wird in nächster Zeit Mutter zweier Kinder und dann steht die Familie plötzlich vor dem Ende der Republik.

„Entrissen“ ist sowohl die Erzählung einer authentischen Kindheit, als auch Beschreibung einer innerlichen Entwicklung, die zwar nur sehr langsam voran kommt, in der aber stetig Ereignisse angehäuft werden, die in der unangenehmen Gemengelage irgendwann zu einem Ausbruch führen müssen. Und so kommt es. Spät zwar, aber immer noch so rechtzeitig, dass sich Katrin tatsächlich eines Tages einer Psychaterin anvertraut, die ihr hilft, das Erlebte aufzuarbeiten und vor allem, die ihr die Möglichkeit zurückgibt, sich auf die Suche nach ihrer wirklichen - Mama - zu machen.

„Entrissen“ ist kein Roman. Das Buch ist ein Erlebnisbericht, der Geschehnisse aus heutiger Sicht verarbeitet. Und so kann man auch entschuldigen, dass der Gastschreiber Peter Hartl, der kleinen, unwissenden Katrin schon im Alter von fünf, sechs Jahren manchmal all zu erwachsene Gedanken angedeihen lässt.
Alles in allem ist „Entrissen“ ein weiteres Puzzleteil des großen Bildes der Vergangenheitsbewältigung – Kapitel DDR. Empfehlenswert nicht nur für diejenigen, die diese Zeit nicht elebten, sondern unbedingt auch für andere, denn die entrissenen Kinder, wie auch deren leibliche Eltern traten als solche nicht sichtbar in Erscheinung – und dennoch waren sie unter uns.

"Entrissen" von Katrin Behr und Peter Hartl
erschienen beim Droemer-Verlag
Preis 16,99 €
ISBN: 9783426275665

(Shanghai Drenger)

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