Hörbuchrezension
Hörbuchrezension vom 06.12.2011
Hinter dem Bahnhof von Arno Camenisch - Annika Bosch:
Es wird früh dunkel und es wird zunehmend kalt draußen, und nass obendrein. Warum also nicht den weichen Sessel aufsuchen und ein Hörbuch anhören? Und vielleicht wird es heute ja sogar etwas weihnachtlich?
Shanghai Drenger:
Wie mans nimmt: für manchen ist ja die Weihnachtszeit auch die Zeit, mal wieder die Spielzeugeisenbahn hervor zu holen. In diesem Sinne könnte es was weihnachtliches sein.
„Hinter dem Bahnhof“ heißt das Hörbuch, welches ich heute vorstellen will. Geschrieben hat es Arno Camensich, ein schweizer Autor, 1978 in Graubünden geboren, der in deutsch und romanisch schreibt.
Also, es hat ein ganz klein wenig mit der Eisenbahn zu tun, aber weihnachtlich ist es eigentlich dann doch nicht.
„Hinter dem Bahnhof“ ist eine sehr schöne Geschichte, eine Erzählung eines kleinen Jungen aus einem Graubündener Bergdorf, also dort, wo die Züge in und aus Richtung Chur rollen.
Die Geschichte hat ein bisschen Tagebuchcharakter, wenn man so will. Ein Junge beschreibt in jeweils kurzen beinahe poetischen Sequenzen die Menschen im Dorf, deren Schrulligkeiten, beschreibt das Dorf selbst, und beschreibt, was sich die Leute so alles erzählen. Diese Beschreibungen sind stets aus der Sicht des Jungen gegeben, mit all seinen Hoffnungen und Zweifeln an der Welt der Erwachsenen, schließlich wird er, samt seinem etwas älteren Bruder, immer wieder abgemahnt wegen irgendwelcher kleiner oder nur scheinbarer Vergehen. Die Erwachsenen müssen halt immer alles besser wissen.
Also, die Geschichte lässt ganz authentisch den Jahreslauf einer Kindheit miterleben. Und, klar, irgendwann wird’s dann auch weihnachtlich, ein bisschen wenigstens.
Annika Bosch:
Kindheitserfahrungen in der Literatur sind manchmal schwer aus der Sicht des nun erwachsenen Schriftstellers geschrieben. Wie gelingt es Camenisch?
Shanghai Drenger:
Ich finde, Arno Camenisch hat dieses Problem brilliant bewältigt. Vielleicht liegt es daran, dass die Sequenzen wirklich nur Beobachtungen beschreiben und keine Wertung darin liegt. Der erzählende Junge hinterfragt nicht und wundert sich nicht, er erzählt einfach nur, was er gesehen hat und was er gehört hat – von anderen, über andere, aber das stellt er nicht in Frage. Und ich denke, das ist genau der Punkt, an dem andere Autoren manchmal scheitern. Camenisch will den Jungen nicht künstlich kindlich wirken lassen, er lässt ihn einfach Junge sein und fertig.
Und das ist auch in der Hörprobe herauszuhören, es ist mitunter ironisch-erwachsen und kindlich-vertrauend zugleich.
Wir hören hier mal eine Sequenz, in der der Junge nach dem alten Haushund der Tante fragt, die im Dorf das Gasthaus „Helvetia“ betreibt. Der Vater ist mit dem Hund unterwegs, was ungewöhnlich ist. Er bindet das Tier an einen Baum und erschießt es mit seinem Jagdgewehr. Der Junge schenkt kurz darauf der Tante ein Bild auf dem er den Hund gemalt hat zum Geburtstag.
Annika Bosch:
Welch bitterer Beigeschmack, möchte man sagen. Die Beobachtungen eines Kindes, aber scheinbar nicht für Kinder geeigntet. Oder?
Shanghai Drenger:
Nun ja, es kommt auf's Kind an, denke ich. Kinder sagen ja bekanntlich immer die Wahrheit, ganz ungeschminkt und realistisch. Warum also „Gefangene“ machen?
Also, genau das ist, denke ich, der Punkt, an dem Camenisch wirklich glänzt. Und, ich will ehrlich sein, ich finde das ganze außerordentlich poetisch.
„Hinter dem Bahnhof“ heißt das heute von Shanghai Drenger vorgestellte Hörbuch. Geschrieben hat es Arno Camenisch. Erschienen ist das Hörbuch im September diesen Jahres im Engeler-Verlag.
Im Handel kostet es 24 Euro.
(Shanghai Drenger)