Hörbuchrezension
Hörbuchrezension vom 22.05.2012
"Austerlitz" von W.G. Sebald - Julie Thiele:
Winfried Georg Sebald ist der Autor eines recht interessanten Romans. Der heißt ganz schlicht „Austerlitz“. Austerlitz, da war mal was, eine Schlacht oder so. Shanghai Drenger ist jetzt hier im Studio und kann uns aufklären.
Shanghai, was steckt hinter diesem Titel: „Austerlitz“?
Shanghai Drenger:
Also, zum einen gibt es da tatsächlich einen Ort, in dessen Nähe im Jahr 1805 eine Schlacht zwischen französischen und österreichischen und russischen Truppen stattfand, also, das damalige Austerlitz heißt heute Slavkov u Brna, liegt ganz in der Nähe von Brünn in Tschechien, aber … was soll ich sagen, darum geht’s gar nicht in diesem Hörbuch.
Austerlitz ist vielmehr der Name eines Mannes, der auf der Suche nach seiner Identität ist. Denn eigentlich ist er nicht Austerlitz, sondern ganz wer anders:
Julie Thiele:
Warte mal, du solltest uns aufklären über die Geschichte, und nicht noch mehr verwirren. Worum geht’s denn nun? Wer ist dieser Austerlitz?
ShanghaI Drenger:
Dieser gewisse Austerlitz, Jacques Austerlitz heißt er, begegnet dem Erzähler erstmals in einem Bahnhofsgebäude in Belgien. Der Erzähler ist mal hier, mal dort, streift durch Europa und trifft dabei auf diesen seltsamen, auffälligen alten Mann, der da im Bahnhof sitzt und zeichnet. Austerlitz fällt dem Erzähler wegen seiner Ausstrahlung auf, er vergisst ihn aber bald wieder. Irgendwann später begegnen sich beide erneut und nun wird der alte Mann interessant. Austerlitz kommt aus England und fühlt sich irgendwie umhergetrieben. Und es stellt sich heraus, dass Austerlitz' Wurzeln gar nicht in England liegen, sondern – und jetzt schließt sich irgend ein Kreis wieder – in Tschechien.
Julie Thiele:
Reicht das als Romanmotiv aus? Eine zunächst unbekannte Herkunft? Da muss doch irgendwie mehr dahinter stecken, oder?
Shanghai Drenger:
Das tut es auch. Jacques Austerlitz bekommt ja nicht auf irgendeinem Amt seine Identität erklärt und es sagt ihm auch niemand, hör mal, so und so ist das mit dir, nein, Austerlitz reist sowohl physisch, als auch seelisch durch die Welt. Irgendwie weiß er, da ist was nicht so, wie es bei allen anderen ist, aber was, weiß ich auch noch nicht. Und so kommt ganz allmählich eine Erinnerung nach der anderen hoch, da werden Bilder gezeichnet von Kindheitserinnerungen, die er nicht zuzuordnen weiß, weshalb er nun seinen Erinnerungen nachreist. Er besucht Orte, an denen er schon gewesen zu sein meint. So kommt er eben nach Antwerpen, nach Paris und an ganz verschiedene Orte. Und das geht so lange bis er schließlich weiß, ich bin nicht in England geboren, ich bin nicht das Kind dieses englischen Pfarrers, bei dem ich aufgewachsen bin, sondern ich komme woanders her. Und so stellt sich heraus, das Jacques Austerlitz ein Kind tschechischer Juden ist, und um einer drohenden Deportation zu entgehen wird er als Kind nach England verbracht, wo er schließlich seinen neuen Namen erhält.
Julie Thiele:
Das klingt jetzt schon mal ganz interessant. „Austerlitz“ von Winfried Georg Sebald ist aber kein Hörbuch, sondern es ist als Hörspiel produziert. Hörspiel ist Film, Hörspiel ist Theater … Gefällt dir die „Aufführung“?
Shanghai Drenger:
Ja und Nein, muss ich sagen. Ich bin da echt noch nicht schlüssig, ich glaube, ich werde das noch ein, zweimal hören müssen. Und daran merkst du schon, es ist nicht so das, was ich richtig gut finde.
Also, ich finde es ganz schön verwirrend, wie es erzählt wird, es ist so vieles schwammig, man weiß mitunter gar nicht, warum jetzt die eine oder andere Stimme auftaucht und so. Also, vielleicht ist es eher ein dramaturgisches Manko, ich weiß es nicht. Klarheit kommt erst so etwa in der zweiten Hälfte des Stückes, da wird es irgendwie verständlicher.
Mag sein, dass es an der Struktur der Geschichte liegt, also an dieser unklaren Situation des Protagonisten. Wäre es an dem, dann haben die Produzenten natürlich gewonnen. Also, ich kann nur raten, das Stück mehrfach anzuhören, auf keinen Fall so nebenbei. Also, es ist definitv kein Stück für's Autoradio.
Julie Thiele:
Hörspiel heißt auch immer großes Aufgebot. Wer spielt mit?
Shanghai Drenger:
Das große Aufgebot ist in diesem Fall ein recht kleines, jedenfalls quantitativ,denn es sprechen nur drei Darsteller. Ulrich Matthes ist der Erzähler, Ernst Jacobi spricht Jacques Austerlitz und Rosemarie Fendel spricht Verá.
Also, was soll man sagen, eine kleine Crew mit großen Namen, denke ich.
Technix:
"Austerlitz" von W.G. Sebald
Verlag: Dhv Der Hörverlag
ISBN-13: 9783867178426
Laufzeit: 83 Min.
(Shanghai Drenger)