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Kommentar

Kommentar vom 20.08.2012

Schon mal gesehn -

Das war irgendwie ein bizarres Schauspiel, welches den europäischen TV-Zuschauern am Freitag, dem 12. August 2012 geboten wurde.
Drei junge Frauen stehen mehr als zwei Stunden lang in einem Glasschrank in einem Moskauer Gerichtssaal. Es wird über sie geurteilt, das heißt, eine Richterin verliest in diesen zweieinhalb Stunden die Urteilsbegründung. Welch ein Mammutwerk. Dabei hatte die Ursache des Verfahrens keine zwei Minuten gedauert.
„Heilige Mutter Gottes, erlöse uns von Wladimir Putin!“ hatten unter anderen die drei Angeklagten, darunter zwei Mütter, in einem Punk-Gebet in einer zentralen Moskauer russisch-orthodoxen Kirche erbeten.

Das sie es auf eine etwas ungewöhnliche, ja sozusagen unorthodoxe Art getan haben, bunt vermummt und mit elektrischen Gitarren, soll mich nicht stören. Ich habe dies selbst vor 25 Jahren getan und fand mich tatsächlich ebenfalls in einer ähnlichen Gerichtssituation wie die drei Frauen in Moskau heute. Etwas anders war die Situation damals dennoch: wir waren nur zu zweit, selbst theoretisch war ein Freispruch nicht denkbar und die Öffentlichkeit, Freunde und Familie durfte an diesem Schauprozess nicht teilhaben. Lediglich die staatliche Jugendorganisation FDJ hatte rund 75 Vertreter geschickt, die hören sollten, welch undankbare, menschenverachtende, weil Sozialismuskritisch, und Friedensbedrohende Subjekte wir doch seien.
Anders war die Situation obendrein, da wir, zumindest für die Dauer der Verhandlung, nicht in einem separaten Glaskasten oder Käfig isoliert worden waren. Auch die Handschellen hatte man uns im Gerichtssaal abgenommen. Wir waren lediglich durch eine Holzschranke (wie in Gerichtssälen üblich) von unseren so genannten „Ofpern“ getrennt.

Hier allerdings stimmt das Bild wieder überein. Berichten zufolge waren im Moskauer Gerichtssaal zahlreiche „Geschädigte“ anwesend. Ihr Schaden: sie fühlten sich durch das lautstarke, musikalische Gebet in ihren religiösen Gefühlen verletzt. In unserem Fall hatte man es mit der Religion nicht so, sondern fühlte sich irgendwie entehrt oder in den Schmutz getreten. KGB-Genosse Putin kann diese damalige Praxis sicher bestätigen.
Punktum. Der Schaden der entstand ist nicht körperlich und nicht sächlich. Dennoch, so hieß die Anklage in Moskau, hätten sich die drei Frauen des „Rowdytums aus religiösem Hass“ schuldig gemacht. Erschwerend kam hinzu, dass sie Gitarren mit in die Kirche genommen hatten. Auweia! Putins einstige Partei hatte Kirchen immerhin zu Schwimmhallen umfunktioniert, allerdings kaum für den Mega-Taufspaß.

Ja, übrigens Putin, was hat der mit der ganzen Sache eigentlich zu tun? Nun gut, sein Name ist schon mal gefallen. Das es seine Person als solche im Zusammenhang mit diesem Prozess ebenfalls tun könnte, ist offen. Rein juristisch formal sind die drei Frauen auch nicht zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden, weil sie sich gegenüber Putin kritisch äußerten, doch spekulativ sei die Frage erlaubt, hätte sich die Anrufung der Mutter Gottes beispielsweise auf den Oppositionspolitiker Gary Kasparov bezogen, wäre es dann ebenfalls zu einem solchen Prozess gekommen?
Kasparov übrigens wurde am Tag der Moskauer Urteilsverkündung wegen verbaler Kritik an selbiger festgenommen und soll nun wegen „Widerstandes gegen die Staatsgewalt“ selbst vor einen Richter gestellt werden.
Doch zurück zu meiner eigenen Situation vor einem viertel Jahrhundert: das Urteil ist ähnlich, ich sollte damals für zwei Jahre und zehn Monate verschwinden, dennoch hatten wir uns geschworen, wir werden trotzdem im Land bleiben, um es vielleicht irgendwann von Innen heraus zu verändern. Eine Utopie.

Wie es die drei Frauen in Moskau mit dem Bleiben halten wollen ist bislang noch nicht bekannt. Oftmals wird solchen prominenten oder prominent Gemachten im Ausland Asyl eingeräumt. Es entspannt zwar die persönliche Situation der Betroffenen, doch ob eine solche Lösung im Sinne der Akteurinnen ist?
Wie dem auch sei, wichtig für die Betroffenen ist vor allem eines: weiterhin die mediale Aufmerksamkeit auf ihrer Seite zu wissen. Für Punks, wie die drei Frauen in Moskau, ist das schwer genug. Nächste Woche schon will sich vielleicht niemand mehr dafür interessieren, weil ja eh schon alle darüber berichtet haben.
Die Polit-Hippie-Postille tageszeitung taz mag richtig damit liegen in ihrem etwas hämisch klingenden Kommentar, dass es gerade „schick“ sei, gegen das Moskauer Urteil zu protestieren. Na und? Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie stark Unterstützung von Außen wirken kann, schick oder nicht, laut oder leise, massig oder einzeln, ganz egal.
Und da nicht alle direkt die drei Musikerinnen aus Moskau selbst unterstützen können, sollte es nun zu einer Stärkung der gesamten demokratischen russischen Gemeinde kommen. Dies würde eventuell nicht nur die drei Frauen befreien, es würde vielleicht sogar manchen Kriegsherd auf der Erde löschen, wo das Feuer aus tatsächlichem religiösen Hass lodert.

(Shanghai Drenger)

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