Neulich im Netzwerk
Neulich im Netzwerk vom 23.10.2012
Herbst? Unverschämtheit! - Das Netz ist mal wieder voll mit Gemecker. Ist es ja immer, aber momentan ist der vorherrschende Grund besonders daneben: das Wetter. Alle meckern über den Herbst. Als gäbe es keine Probleme auf dieser Welt. Es ist also Herbst. Hm. Es nebelt. Hm. Es ist kälter geworden. Hm. Scheinbar ist das noch nie vorgekommen, unverzeihlich. Eine Unverschämtheit.
Zeitungen, Radiomoderatoren - alle bedauern, keine besseren Wetter-Nachrichten zu haben. Aber warum? Was ist so schlimm daran? Es gibt Millionen Menschen, für die ist der Herbst die schönste Jahreszeit. Die tollen Farben, das besondere Licht, die romantischen Nebelschwaden. Es gibt großartige Fotos auf Facebook vom Herbst. Nicht zuletzt kann man endlich die neue Jacke, die neue Mütze, die schönen Tücher benutzen, die seit Ende September im Schrank liegen.
Und trotzdem wird gemeckert. Brauchen wir das Meckern vielleicht zum Leben? So wie atmen? Immerhin ist meckern das Erste, was wir tun, wenn wir geboren sind. Kein Wunder. Hell, kalt, hart - kein schöner Empfang nach der Geborgenheit des Mutterleibs. Und Meckern kann ja auch konstruktiv sein. Sonst würde die Menschheit vielleicht immer noch in Höhlen hausen. Aber wir Deutschen stehen im Ruf, mehr zu nörgeln als jede andere Nation.
Ideengeschichtlich betrachtet scheint die Nörgelei eine Sache der Linken, die das Maulen des einfachen Mannes zur "Kritik" veredelt hat. Kein Wunder, dass die Kombination beider Eigenschaften, also links und deutsch, ganze Wissenschaften hervorgebracht hat - von der Nörgelei der Politischen Ökonomie des Karl Marx und der Nörgelnden Theorie der Frankfurter Schule bis zu Einzeldisziplinen wie Klaus Holzkamps Nörgelnder Psychologie. Außerdem Nörgelnde Aktionäre, Nörgelnde Polizisten, Nörgelnde Juristen und allerlei anderes kritisches Zeug.
Doch dieser Eindruck trügt. Tatsächlich nörgelten nicht nur Linke gern, auch die Gegenseite ließ sich nicht lumpen, weder auf dem Felde der Theorie - man denke nur an Karl Poppers Nörgelnden Realismus - noch der Belletristik. Von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" bis zu Nörgel-Bestsellern der Gegenwart (Eva Herman und Ulrich Wickert, Frank Schirrmacher und Thilo Sarrazin) nörgeln Konservative nicht weniger inbrünstig.
Der Unterschied ist, könnte man vereinfacht sagen: Progressives Nörgeln ist das Nörgeln darüber, dass sich die Dinge nicht ändern, konservatives das darüber, dass sie sich geändert haben. Und am Ende des Tages, wenn es ums Meckern über den Chef oder die Untergebenen und ums Herumquengeln am Partner oder der Partnerin geht, sind sich ohnehin alle gleich.
Der Journalist Eric T. Hansen, ein aus Hawaii stammender, seit fast 30 Jahren in Deutschland lebender ehemaliger mormonischer Missionar, hat sogar ein Buch darüber geschrieben. "Nörgeln", schreibt er darin, "ist kein Privatvergnügen wie in der Nase bohren, es ist das ursprüngliche Fundament der Gesellschaft und die heimliche Quelle der nationalen Identität. Es gibt jedem Deutschen einen Grund zu leben." Zur Hochform läuft Hansen auf, wenn er die größten deutschen Nörgler, nämlich Luther und Goethe, würdigt. Dessen Faust ist für Hansen die "Jahrtausendfigur" des literarischen Meckerns schlechthin - und zugleich Sinnbild des Nörgelns deutscher Provenienz. Denn im Gegensatz zu anderen literarischen Jammerlappen wie etwa Hamlet habe Faust überhaupt keinen Grund, mit der Welt zu hadern. Warum er es dennoch tue? Er nörgelt, weil es ihm zu gut geht, sagt Hansen.
Womit wir wieder bei der Wetter-Meckerei angekommen sind. Im Oktober war es zu warm, im Sommer war es zu kalt. Und überhaupt muss das Wetter immer herhalten, wenn jemand mal wieder schlechte Laune hat und keine Lust, sich mit dem Grund dafür zu befassen. Und manchmal gibt es einfach keinen Grund.
Aber weil jemand, der mit einem Lächeln und dauerhaft guter Laune durch sein Leben geht, schnell als oberflächlich oder langweilig abgestempelt wird, muss eben ein bisschen gemeckert werden. Und wenn man als positiver Mensch, dem es eigentlich richtig gut geht, keinen Grund zum meckern hat, bleibt ja quasi nur noch das Wetter. Ich habe mich jedenfalls gefreut, als am Montag endlich mal so richtig Herbst war. Es gibt da diese Theorie, dass alle den Herbst lieben, die im Sommer geboren wurden. Darüber hinaus braucht auch die Natur den Herbst, um sich auf den Winter vorzubereiten. Und die Gärtner und Landwirte haben so langsam die Nase voll von dieser dauernden Trockenheit. Und endlich verschwinden mit den sinkenden Temperaturen auch Fliegen und Mücken und andere Krabbeltiere im Winterquartier.
Vielleicht müssen die Wetter-Nörgler einfach mal raus aus der Stadt. Die Kartoffel-Feuer riechen, den Nebel fühlen, mit den Füßen durch die bunten Blätter rascheln und genießen, wie der Wind einem die Worte vom Mund pflückt. Dabei vergisst man das Meckern. Ehrlich.
(Grit Hasselmann)