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Neulich im Netzwerk vom 14.11.2012

Geschichte ist nur was für alte Leute - Geschichte. Wenn das Wort nur so für sich steht, kann das verschiedenes bedeuten. Ich erzähle meinem kleinen Kind eine Geschichte. Doch schon, wenn ich dem großen Kind Geschichten erzähle, meint das etwas ganz anderes. Und erst, wenn ich meine Geschichte erzähle. Oder aus der Geschichte. Hm. Und wenn dann meine Mutter oder mein bester Freund aus der gleichen Vergangenheit berichten, kommt eine völlig andere Geschichte heraus. Es ist schon merkwürdig. Eins eint alle Bedeutungen von Geschichte. Sie sind alle durchdrungen von der subjektiven Sicht derer, die sie erzählen. Und dann noch die Geschichtsschreibung oder der Geschichtsunterricht. Da sind wir schnell bei der Absicht, eine Perspektive einzunehmen. Dabei zeigt sich, dass die Geschichtsschreibung auch von Herrschaftsverhältnissen und damit von politischen Interessen abhängt. Sehr deutlich tritt das bei der historischen Beschreibung und Deutung der jeweiligen Nationalgeschichte zutage. Und damit sind wir beim Problem der historischen Wahrheit. Schon, wenn ich aus meiner Vergangenheit berichte, erzähle ich sie verschieden. Je nach Stimmung und Publikum. Und es zeigt sich, dass es keine historische Wahrheit an sich gibt. Sondern nur eine Interpretation der Quellen aus der jeweiligen Perspektive. Vor 1000 Jahren hatte man ein anderes Bild von Geschichte als heute. Geschichte ist eigentlich alles, was geschehen ist. Aber selbst da gibt es Unterschiede. Meine Nachbarin stammt aus Ostpreußen. Sie erinnert die Zeit ihrer Vertreibung anders als ihre polnische Nachbarin. Die wieder anders als die Weltkriegs-Generäle. Die wieder anders als die Politiker, die sie – je nach Parteizugehörigkeit – verschieden interpretieren. Und damit sind wir wieder in Weimar, wo es ein „Geschichts-Fest“ gibt. „Rendezvous“ mit der Geschichte heißt es. Aber kann man Geschichte feiern? Ist die Geschichte nicht voller Verrat, Brutalität, Kriege, Katastrophen? Und dann noch das Thema: „Nachbarschaften“. Nachbarn sollten Freunde sein, Fremde können Nachbarn werden. „Es gibt keine netten Nachbarn“ sagte gestern jemand im Fernsehen. Bei uns auf dem Dorf weiß jeder alles über seine Nachbarn. Aber - Hilft das? In einer Welt der Globalisierung ist jeder des anderen Nachbarn, doch gleichzeitig besinnt man sich auf heimatliche Nachbarschaften und Freundschaften. Migration macht aus Fremden Nachbarn. Und trotzdem ist die Frau, von der ich erzählt habe, immer noch die „Zugewanderte“. Aber auch ehemalige Feinde können als Nachbarn Freunde werden – der Elysée-Vertrag, der die deutsch-französische Aussöhnung besiegelte, nähert sich seinem 50. Geburtstag, und das „Weimarer Dreieck“ zwischen Frankreich, Polen und Deutschland von 1991 ist auch bereits „volljährig“. Aber können Deutsche entspannt in die Geschichte reisen, wenn es um Nachbarschaften geht? Waren wir nicht eher schreckliche, gefährliche Nachbarn? Ist es nicht aus der Geschichte bekannt, dass solcher Zwist die Generationen überdauert? Kann man also dann hier zu Lande Geschichte feiern? Offenbar. Denn Weimar versucht es. Vielleicht, weil die Stadt schon immer eine besondere Rolle inne hatte? Die Migranten hier waren zu allen Zeiten hoch erwünscht: Musiker, Fürstinnen, Künstler, Gelehrte, die Stadt hat ihre Bedeutung fast nur Ausländern zu verdanken. Heute sieht das schon anders aus. Da gibt es Misstrauen, Feindseligkeiten, Aggressionen zwischen den heimischen und den fremden Nachbarn. Und oft meint man, dass das nicht alle Entscheidungsträger stört. Immer noch besser, die Leute streiten sich, richten ihre Wut gegen ihre neuen Nachbarn, als gegen ihre Regierungen. Noch eine Funktion der Nachbarschaften also. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt aber auch, dass Nachbarschaften in Dörfern und Städten für gegenseitige Hilfeleistungen, Konfliktregelungen oder die Organisation des Festlebens verantwortlich waren. Auch die soziale Kontrolle spielte sich auf dieser Ebene ab – und bis heute noch, denkt man neugierige Blicke und den Tratsch. Das „Weimarer Rendezvous mit der Geschichte“ wird solche Nachbarschaften, Fremdheiten und Freundschaften erkunden. Ein Versuch, Geschichte erlebbar zu machen. Aber ist Geschichte nicht ein Thema für ältere Menschen? Muss man nicht erst eine Geschichte haben, um Geschichten erzählen zu können? Für Gymnasiasten ist heute der Mauerfall schon Schulbuch-Theorie. Wenn sie hören, dass ich in dieser Zeit schon erwachsen war, sind sie erschüttert. So wie ich Kriegsgeschichten nur von meiner Oma bekommen konnte, fragen sie, wenn sie etwas über die deutsche Teilung, über die beiden deutschen Staaten hören wollen, lieber die Großeltern. Was mich total ärgert. Haben die doch eine komplett andere Auffassung von unserem Leben in der DDR, von der Wende und der Zeit des Umbruchs als ich. Und natürlich ist meine Sicht die richtige. Oder nicht? Muss das Kind, wie Generationen vorher, sich sein eigenes Bild von der Geschichte machen, damit es wahr ist? Und ist die Geschichte jemals wahr? Und wann werden Geschichten aus der Geschichte? Aber ob man sich nun zum „Rendezvous mit der Geschichte“ verabreden will oder nicht: Kurt Tucholsky bringt es auf den Punkt: "Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere die Geschichte."

(Grit Hasselmann)

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